Thursday 1 April 2010

Kapitel 109 bis 120


Die Welt lebt durch Güte
Die indische Spruchweisheit des «Tirukkural»
Aus dem Tamil übersetzt von: Albrecht Frenz und K. Lalithambal
III. LIEBE
Kapitel 109. Verwirrung durch eine Schönheit
1081.       
Ist sie mit den kostbaren Ohrringen eine Himmlische, eine seltene Pfauenhenne, eine Frau menschlicher Art? - Meine Gedanken sind verwirrt.
1082.       
Gibt diese Schönheit meinen Blick zurück, ist sie gleich einer kämpferischen Himmlischen, die kommt, um mit einer Armee anzugreifen.
1083.       
Ich kannte die Gestalt des Todes nicht - nun weiß ich, er hat weibliche Tugenden und kämpferische Augen.
1084.       
Im Gegensatz zum weiblichen Scharm stehen die Augen, die das Leben derer zu trinken scheinen, die sie ansehen.
1085.       
Ist es der Tod, das Auge oder ein Reh? - Alle diese drei erscheinen in den Blicken der guten Frauen.
1086.       
Wären ihre grausamen Augenbrauen nicht gebogen, um ihren Blick zu schließen - ihre Augen ließen mich nicht erzittern.
1087.       
Der Stoff, der den festen Busen dieser Frau bedeckt, gleicht dem Schutz, der das Auge eines brunftigen Elefanten bedeckt.
1088.       
Meine Macht, sogar vom Feind im Kampf gefürchtet, zerbricht vor ihrer leuchtenden Stirn.
1089.       
Besitzt sie rehgleich zarte Blicke und Scheu – was soll das Tragen anderer Juwelen?
1090.
Das erhitzte alkoholische Getränk bringt nur dem Betrunkenen Freude - nicht so die Liebe: Sie gibt Freude schon beim Ansehen.

Kapitel 110. Kennen der Wissenschaft

1091.       
In ihren bemalten Augen sind zwei Blicke – der eine verursacht Schmerz, der andere ist das Heilmittel.

1092.       
Der kurze, verstohlene Blick ihrer Augen ist mehr als die halbe Liebesfreude.

1093.       
Sie schaute auf mich, und während sie schaute, beugte sie ihr Haupt - das war das Wasser, das sie auf unsere Liebe goß.

1094.       
Schaue ich sie an, schaut sie zu Boden - schaue ich sie nicht an, schaut sie mich an und lächeltfreundlich.

1095.       
Sie schaut mich nicht direkt an, sondern lächelt mit einem Seitenblick.

1096.       
Sprechen sie auch wie Feinde miteinander – die Worte der sich Liebenden versteht man bald.

1097.       
Die anscheinend harten Worte und die offensichtlich haßvollen Blicke sind Zeichen der sich Liebenden, die sich als Feinde verstellen.

1098.       
Sehe ich die Freundliche an, lächelt sie freundlich - das ist ihre Schönheit mit dem wiegenden Gang.

1099.       
Nichtssagende Blicke gleich Fremden auszutauschen, gehört nur zu sich Liebenden.

1100.       
Stimmt Auge mit Auge überein, sind Worte des Mundes überflüssig.

Kapitel 111. Freude der Umarmung

1101.       
Die Freude der fünf Sinne: Gesicht, Gehör, Geschmack, Geruch und Berührung findet man nur bei den armbandgeschmückten Mädchen.

1102.       
Medizin und Krankheit unterscheiden sich gewöhnlich, aber das schöne Mädchen ist Krankheit und Heilmittel zugleich.

1103.       
Ist die Welt des Lotusäugigen so angenehm wie das Schlafen in den weichen Armen der Geliebten?

1104.       
Woher bekam sie das Feuer, das brennt, wenn ich mich zurückziehe, und das abkühlt, sobald ich mich nähere?

1105.       
Die Schultern des Mädchens mit den blumengeschmückten Locken geben mir so viel Freude wie das unvermittelte Freuen über eine begehrte Sache.

1106.       
Die Schultern dieses Mädchens sind wie aus Nektar gemacht - sie erneuern mich jedes Mal, wenn ich sie umarme.

1107.       
Das freudige Glück, das hübsche schöne Mädchen zu umarmen, gleicht der Freude, im eigenen Haus zusammen zu wohnen und das Essen mit anderen zu teilen.

1108.       
Den Liebenden ist es eine Freude, sich so zu umarmen, daß nicht einmal eine Brise durchweht.

1109.       
Liebesstreit, gut werden und umarmen - das sind die üblichen Gewinne solcher, die sich in Liebe vereinen.

1110.       
Wie man sich durch Lernen immer mehr seines Unwissens bewußt wird, so nimmt meine Liebe jedes Mal zu, wenn ich sie umarme

Kapitel 112. Preis der Schönheit

1111.       
Preis dir, Anicha! Du bist zart - zarter als du ist meine Liebe.

1112.       
Siehst du Blumen, stehst du verwirrt da, mein Herz, und denkst, ihre Augen sind gleich diesen Blumen, die viele ansehen.

1113.       
Ihr Körper ist zart, ihre Zähne sind Perlen, ihr Duft ist angenehm, und ihre bemalten Augen sind die Speere der Bambusschultrigen.

1114.       
Könnte der blaue Lotus sehen, er beugte sich bis auf den Grund nieder und sagte: «Ich kann mich nicht vergleichen mit den Augen des vollkommenen, juwelengeschmückten Mädchens.»

1115.       
Sie hat Anichablumen getragen, ohne ihre Stengel abzubrechen - keine günstige Trommel soll für ihre Hüfte geschlagen werden.

1116.       
Die Sterne werden verwirrt und können nicht mehr unterscheiden zwischen dem Mond und dem Gesicht dieses Mädchens.

1117.       
Zeigt das Gesicht des Mädchens auch Flecken wie der leuchtende Mond, der ab- und zunimmt?

1118.       
Preis dir, Mond! Auch du wärest wert, geliebt zu werden, wenn du scheinen könntest wie das Gesicht dieses Mädchens.

1119.       
Möchtest du gleich dem Gesicht von ihr mit den blumengleichen Augen sein, Mond - erscheine nicht, um von so vielen gesehen zu werden.

1120.       
Die Anicha und die Schwanenfeder sind wie die Früchte der Nerunji für die Füße der Frau.

Kapitel 113. Erzählen vom Ruhm der Liebe

1121.       
Das Wasser, das von den Zähnen derer mit weichen Worten springt, gleicht der mit Honig vermischten Milch.

1122.       
Die Liebe zwischen mir und meinem Mädchen ist gleich dem, was zwischen Körper und Seele ist.

1123.       
Du Abbild in den Pupillen meiner Augen, geh weg! - Es gibt keinen Ort für dich, meine Geliebte mit der schönen Stirn!

1124.       
Sie mit den erlesensten Juwelen gleicht der lebendigen Seele, wenn sie bei mir ist - und der sterbenden, wenn sie von mir geht.

1125.       
Sollte ich sie vergessen, erinnere ich mich wieder - aber ich habe die Eigenschaften derer mit den leuchtenden, kämpferischen Augen nicht vergessen.

1126.       
Er geht mir nicht aus den Augen und fühlt sich nicht verletzt, wenn ich zwinkere - so fein ist mein Lieber.

1127.       
Da der Geliebte in meinen Augen lebt, will ich sie nicht einmal bemalen, wenn er mich verließe.

1128.       
Weil der Geliebte in meinem Herzen wohnt, fürchte ich mich, heiß zu essen - er möchte sonst verbrennen.

1129.       
Ich zwinkere ihm nicht zu, damit er nicht verschwindet - deshalb sagt der Ort, ich sei unfreundlich.

1130.       
Mein Lieber wohnt glücklich in meinem Herzen - aber der Ort sagt, er sei unfreundlich und lebe getrennt von mir.
                                                                                                          
Kapitel 114. Erzählen von der Preisgabe der Scheu

1131.       
Für solche, die aus Liebe leiden, gibt es keine wirkungsvollere Hilfe als das Palmyrapferd.

1132.       
Körper und Seele leiden und nehmen Zuflucht zum Palmyrapferd - sie haben die Scheu abgelegt.

1133.       
Einst hatte ich eine gute Männlichkeit mit Scham - nun bin ich vor Liebe verrückt und gebrauche das Palmyrapferd.

1134.       
Der mächtige Strom der Leidenschaft riß das Floß der Männlichkeit samt der Scham mit sich fort.

1135.       
Sie mit den girlandengleichen Armringen hat mir das Palmyrapferd aufgenötigt - und die abendliche, schmerzliche Pein.

1136.       
Ich habe fest vor, auf dem Palmyrapferd zu reiten, sogar zur Mitternacht - meine Augen schlafen nicht mehr, nur wegen dieses Mädchens.

1137.       
Nichts ist größer als das weibliche Wesen, das nie auf einem Palmyrapferd reiten würde, wäre es auch in ein Meer der Lust gestürzt.

1138.       
Die Liebe kommt heraus, ohne sich zu verstecken, und denkt nicht daran, daß sie höchst keusch und hilflos ist.

1139.       
Meine Liebe dreht sich verwirrt in den Straßen und denkt, sie sei anderen nicht bekannt.

1140.       
Die Toren lachen mich vor meinen Augen aus – sie haben nicht erlitten, was ich erlitten habe.

Kapitel 115. Offenbaren der Gerüchte

1141.       
Mein kostbares Leben wird durch die Gerüchte der Leute erhalten - zum Glück wissen das viele nicht.

1142.       
Durch Gerüchte gab sie mir dieser Ort, da er ihren Wert nicht kannte - sie mit den blumengleichen Augen.

1143.       
Ist das Gerücht dieses Ortes nicht ein Gewinn - mir ist, als habe ich gewonnen, was ich nicht erworben habe.

1144.       
Meine Liebe verstärkt sich durch das Gerücht - ohne das Gerücht nimmt sie ab und verliert ihr Wesen.

1145.       
Wie Trinken durch Trinken immer reizvoller wird - Liebe wird reizvoller, wenn sie durchs Gerücht offenkundig wird.

1146.       
Ich sah ihn nur einen einzigen Tag, aber die Gerüchte verbreiten sich gleich der Schlange, die den Mond verschlingt.

1147.       
Mit dem Gerücht des Ortes als Dünger und den Worten der Mutter als Wasser wuchs diese Krankheit.

1148.       
Liebe gerüchtehalber auszulöschen heißt: Feuer mit Butterschmalz auszulöschen.

1149.       
Er bat mich, mich weder zu fürchten noch zu schämen, und ging weg - warum sollte ich mich vor Gerüchten fürchten?

1150.       
Der Ort verbreitet das Gerücht, das ich brauche - mein Geliebter stimmt mit meinem Wunsch überein.

Kapitel 116. Nichtertragen der Trennung

1151.       
Verläßt du mich nicht, sag es mir - aber kommst du nicht schnell zurück, sag es denen, die dann noch leben.

1152.       
Allein sein Blick ist erfreuend - aber seine Umarmung ist schmerzlich, da ich Trennung fürchte.

1153.       
Vertrauen ist kaum möglich, da selbst der verständnisvollste Geliebte gelegentlich weggeht.

1154.       
Verließe mich mein Geliebter, der einst sagte: «Fürchte dich nicht!» - wäre es ein Tadel für mich, die ich seinen Worten traute?

1155.       
Willst du mich retten, verhüte das Weggehen meines Geliebten - verläßt er mich, ist eine Vereinigung kaum wieder möglich.

1156.       
Ist er grausam genug, sein Weggehen anzusagen, so erfüllt sich die Hoffnung auf seine Rückkehr kaum.

1157.       
Würden nicht die Armreifen von meiner dünnen Hand gleiten und die Trennung von meinem Geliebten ansagen?

1158.       
Bitter ist das Leben an einem unfreundlichen Ort -schmerzlicher als das ist die Trennung vom Geliebten.

1159.       
Feuer brennt, wenn man es berührt - brennt es auch noch, wenn man es gleich der Liebeskrankheit beseitigt?

1160.       
Es gibt so viele, die dem Unmöglichen zustimmen: den Schmerz töten, die Trennung ertragen und doch weiterleben.

Kapitel 117. Beklagen des Liebesschmerzes

1161.       
Ich verstecke den Schmerz, aber was nützt es - er quillt gleich einer Quelle denen, die sie ableiten wollen.

1162.       
Ich kann den Schmerz nicht verbergen - ihn dem zu sagen, der ihn verursachte, ist auch beschämend

1163.       
Liebe und Schmerz hängen an meinem Körper - gleich dem Tragholz vermag er das Leben nicht mehr zu ertragen.

1164.       
Es gibt nur das Meer der Leidenschaft - es gibt kein rettendes Floß zum Überqueren.

1165.       
Was will er den Feinden antun, der Schmerz in Liebe verursachte?

1166.       
Die Freude der Liebe ist so weit wie das Meer - aber der Schmerz der Trennung ist weit größer.

1167.       
Ich habe die heftige Flut der Leidenschaft durchschwömmen, habe aber kein Ufer gesehen - ich bleibe allein sogar zur Mitternacht.

1168.       
Die gnädige Nacht ließ alle Wesen einschlafen und hat keinen anderen Gefährten als mich.

1169.       
Die langen Nächte dieser Tage sind grausamer als die Grausamkeit des Grausamen.

1170.       
Könnten sie gleich meinem Denken zu seinem Ort gehen - meine Augen müßten in dieser Flut der Tränen schwimmen.

Kapitel 118. Kummer durch das Begehren der Augen

1171.       
Warum weinen die Augen nun? - Ich bekam diesen unerträglichen Schmerz, weil sie Ausschau hielten.

1172.       
Die bemalten Augen, die ohne Vorhersicht schauten - warum leiden sie nun Pein, ohne nachzudenken?

1173.       
Sie schauten begierig auf ihn, aber nun weinen sie - das ist zum Lachen.

1174.       
Die bemalten Augen haben mir eine dauernde und unheilbare Krankheit eingebracht - nun können sie nicht mehr weinen, weil die Tränen vertrocknet sind.

1175.       
Die Augen, die mir eine Leidenschaft größer als das Meer einbrachten, leiden nun an Schlaflosigkeit.

1176.       
Wie erfreulich ist es - die gleichen Augen, die mir Schmerz brachten, werden nun vom gleichen Leiden befallen.

1177.       
Laß sie leiden und in Tränen vertrocknen – die Augen, die so brennend nach ihm ausschauten.

1178.       
Er ist hier, der mich mit Worten, aber nicht mit seinem Herzen liebte - meine Augen leiden, weil sie ihn nicht sehen.

1179.       
Sie schlafen nicht, wenn er nicht kommt, sie schlafen auch nicht, wenn er kommt - in beiden Fällen erleiden meine Augen große Pein.

1180.       
Es ist nicht schwer für die Leute des Ortes, hinter meine Geheimnisse zu kommen, da meine Augen einer geschlagenen Trommel gleichen.

Kapitel 119. Fahlheit des Körpers

1181.       
Ich stimmte der Trennung von meinem Geliebten zu - wem soll ich das zuschieben, daß ich fahl wurde?

1182.       
Die Fahlheit ist überglücklich, weil er sie verursachte - sie ruht auf meinem ganzen Körper.

1183.       
Meine Schönheit und meine Scham nahm er – als Gegengeschenk gab er Schmerz und Fahlheit.

1184.       
Ich denke und spreche nur von seiner Ausgezeichnetheit - ist diese Fahlheit nicht hinterhältig?

1185.       
Sieh, wie mich dort mein Geliebter verläßt – und hier breitet sich Fahlheit über meinen Körper aus.

1186.       
Gerade wie die Dunkelheit auf das Vergehen des Lichtes wartet - Fahlheit wartet auf den Abbruch der Umarmung meines Mannes.

1187.       
Ich lag in seiner Umarmung und ging ein wenig weg - Fahlheit füllte mich im selben Moment und bemächtigte sich meiner.

1188.       
Niemand sagt: «Er hat sie verlassen» - nur: «Sie wurde fahl.»

1189.       
Geht es dem gut, der mich von seinem Weggehen überzeugte - laß meinen Körper leiden und fahl werden.

1190.       
Lieber soll gesagt werden, ich sei fahl geworden, als daß sie ihn gnadenlos tadeln – meinen Geliebten, der mich von der Trennung überzeugte.

Kapitel 120. Allein schmachtend

1191.       
Wer von denen geliebt wird, die sie lieben, ist gesegnet mit der kernlosen Frucht der Liebe.

1192.       
Die Liebe, die der Geliebte denen gibt, die ihn lieben, ist gleich der Wolke, die denen Regen gibt, die davon leben.

1193.       
Wer geliebt wird von denen, die sie lieben, hat den Stolz zu sagen: «Wir leben.»

1194.       
Wird sie nicht von dem geliebt, den sie liebt, ist sie ohne irgendeine Vortrefflichkeit, auch wenn sie von allen geliebt wird.

1195.       
Liebt mich der nicht, den ich liebe - was kann er für mich tun?

1196.       
Einseitige Liebe ist schmerzlich - Liebe ist erfreulich, wenn sie beiderseitig ist wie das Schulterholz.

1197.       
Kennt der Liebesgott keine Falschheit, keine Pein? - Er wohnt auf einer Seite.

1198.       
Keiner in der Welt ist so hartherzig wie der, der lebt, ohne seiner Geliebten angenehme Worte zu geben.

1199.       
Auch wenn mich mein Geliebter nicht liebt – jedes seiner Worte ist meinen Ohren angenehm.

1200.       
Gesegnet du, mein Herz! - Schließ das Meer des Kummers lieber ein, als deinen Schmerz einem Lieblosen zu sagen.

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